Nicht zufällig, weil bestimmt durch geschichtliche Gegebenheiten,
begannen wir vor 20 Jahren als Selbstorganisation von und für Migrantinnen in Linz mit unserer Arbeit in maiz.
Einerseits die mitgebrachten Erfahrungen und Positionen im Widerstand gegen die Militärdiktaturen in Lateinamerika der 70er und 80er Jahre, die Implementierung neoliberaler Politiken, der Verfall sozialistischer Staaten Ende der 90er und der weltweite Aufstieg des Neoliberalismus zu einer hegemonialen Position. Andererseits das Dasein als Migrantinnen im westeuropäischen Territorium, unwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen und das Fehlen von Perspektiven und Räumen, die selbstorganisiertes Handeln ermöglichen könnten. Einige Jahre später, 1994, der indigene Aufstand in Chiapas.... Im gleichen Jahr begannen wir, nach außen hin sichtbar und im Zentrum von Linz uns als Migrant_innen politisch zu organisieren. maiz wurde gegründet.
Durchkreuzt von Widersprüchen
bauten wir maiz zu einem vernetzten autonomen Territorium der Artikulation von Widerstand, des unbewaffneten Kampfes und der Produktion gegenhegemonialen Wissens. Wir leisteten und leisten Widerstand gegen patriarchale und heteronormative Strukturen und Gewalt. Gegen kapitalistische Ausbeutung, ungleiche politische Machtverhältnisse, gegen rassistische Ausgrenzung, Sexismus und Homophobie.
Im ständigen Prozess des Werden...
... nach 20 Jahren: die nationale und internationale Lage hat sich verändert. Sie hat sich verschärft: Neoliberalismus, Finanz- und Wohlfahrtskrise, Gentrifizierung, Frontex, Lampedusa... Dagegen leisten wir als Protagonist_innen im Zentrum von Linz und mit vielen anderen in der Welt Widerstand. 20 Jahre gegenhegemoniale Praxis, in der der Weg der Veränderung nicht bereits vorgezeichnet war und ist, sondern vielmehr beim Gehen entsteht und kollektiv entwickelt wird. Unsere Fragen erzeug(t)en Brüche, Irritationen, Paradoxien, Antagonismus und die Notwendigkeit zum Perspektivenwechsel. Eine Voraussetzung dafür ist es, neue Strategien und Utopien zu entwickeln.
2014: wir weigern uns, dieses Jahr im herkömmlichen Sinn zu befeiern.
Unter dem Motto „trauernd trauen wir uns“ werden wir das Jahr erleben und gestalten. Trauernd denken, trauernd lachen, trauernd diskutieren, trauernd kämpfen, trauernd tanzen, bewusst trauend stören, trauend entwerfen, trauend umsetzen, trauend uns trauen. Trotzdem.
Postkoloniale Einverleibungen: 20 Jahre maiz und strategischer Kannibalismus, revised...
Der Weg, den wir seit Anbeginn ausprobieren, führt uns auch 2014 in Richtung Störung, Provokation, zu einer anderen Ästhetik. Es ist nicht neu, dass Unterdrückte sich der Strategien der kulturellen Anthropophagie[1] bedienen. Das Neue daran ist die antirassistische und feministische Ethik. Denn um unter der Herrschaft einer Dominanzkultur etwas zu produzieren, das keine gemäß den von den Machthabern vorgeschriebenen Regeln "erlaubte" Wiedergabe ist, muss zuerst der Andere wie eine Beute assimiliert werden.[2]
Die feministische Lesart der Anthropophagie von maiz verschiebt die Kontexte und es geht um ein Displacement von Grenzen, um emanzipatorische Raumnahme und damit Widerstand gegen Exotisierung der/des „Anderen“.
Im Rahmen einer anthropophagischen Woche stellen wir uns Fragen ...
Was ist die "Menschen fressende Gesellschaft" und welchem Ziel dient sie? Was wird unter dem Begriff Anpassung subsumiert? Wie wird anthropophagischer Dialog verstanden? Wer darf aus welchen Positionen sprechen, welches Sprechen wird als (relevantes, sinnstiftendes,...) Sprechen wahrgenommen/verstanden? Entlang welcher Achsen verlaufen die Asymmetrien im Dialog? Welche sind anthropophagische Aneignungsstrategien?
Ist Europa für Migrantinnen noch ein Traum? Wie werden demokratisch-universalistische Utopie und eurozentrischer Alptraum imperialer Ansprüche, die in Kolonialismus und Rassismus eine lange Tradition haben, wahrgenommen? Wie ist die unauflösliche Verbindung zwischen dem europäischen Ideal der Gleichheit und der gleichzeitigen Realität der Ungleichheit?
Was heißt es, die hegemonialen Vereinnahmungen als Inkorporation zu verstehen und dieser wiederum durch Bilder und Praxen körperlicher Annäherung oder Verweigerung zu begegnen? Kann eine politische Strategie darin bestehen, sich fressen zu lassen und dann unverdaulich zu werden?
...trotz aller Gründe zu trauern... weiterhin Utopie, Hoffnung, Empörung und Kampf. Nie wieder ein Österreich ohne uns!
- ^ In Lateinamerika benennt der Begriff der „kulturellen Anthropophagie“ eine Kulturtheorie, die auf ein Manifest des Brasilianers Oswald de Andrade aus dem Jahr 1928 zurückgeht. Seither wird er als Metapher für insbesondere festliche oder karnevaleske Prozesse kultureller Einverleibung verwendet. Der neue Begriff eröffnet alternative Wege im Umgang mit Differenzen. Die Strategie der Anthropophagie, der „Menschenfresserei“, zielt auf kulturelle Aneignungsverfahren des Fremden: Das Andere wird verschlungen, dem eigenen Stoffwechselsystem zugeführt und dient somit als Baustein einer eigenen unverwechselbaren Identität in Hinblick auf eine mögliche kulturelle Erneuerung. Dieses Verfahren plädiert für Einverleibung anstatt Zurückweisung, für Aneignung anstatt Angleichung und bietet die Chance, Abgrenzungen und Hierarchisierungen zugunsten einfühlender und gleichberechtigter Unmittelbarkeiten im Umgang mit Kulturen zu hinterfragen.
- ^ Aus einem Text von Luzenir Caixeta und Rubia Salgado